W. Seitz: Auf die Wartebank geschoben

Cover
Titel
Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900


Autor(en)
Seitz, Werner
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
CHF 38.00
von
Simona Isler, Freischaffende Historikerin

Das Buch von Werner Seitz zum Jubiläum des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz bietet einen äusserst systematischen und umfassenden Überblick der Ereignisse sowie eine Fülle an Daten und Fakten rund um den langen Kampf für die politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz. Wer wissen möchte, in welchen Kantonen wann über welche Stimmrechtsvorlagen abgestimmt wurde, wie sich das Abstimmungsverhalten über die Zeit regional und national verändert hat, welche Argumente BefürworterInnen und GegnerInnen des Frauenstimm- und Wahlrechts ins Feld führten oder wie Parteien mit dem lauter werdenden Ruf nach Gleichstellung in der Politik umgingen, wird im beinahe 300 Seiten starken Buch garantiert fündig.

Das Buch behandelt die Geschichte bis zur Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts chronologisch, beginnend bei der «Konstruktion des männlichen Republikanismus» im 18. Jahrhundert (Teil I). Teil II spannt den grossen Bogen von der erstmals formulierten Forderung nach politischer Gleichstellung in den um 1900 gegründeten Frauenorganisationen über zahlreiche erfolglose Vorstösse, Petitionen, Aktionen und Abstimmungen bis zur endlich gewonnen nationalen Abstimmung von 1971. Teil III behandelt die Jahre 1971 bis 2019 und die «Entwicklung der Repräsentation der Frauen in den politischen Institutionen» nach der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. Nachdem die ersten Frauen sowohl kantonal wie auch national in Parlamente und Regierungen zogen, stieg ihre Anzahl keineswegs immer kontinuierlich, sondern es gab auch deutliche Phasen der Stagnation sowie des Rückgangs, zum Beispiel in den 2000er Jahren im Ständerat. Zu Recht weist der Autor in diesem Zusammenhang auf den wichtigen anhaltenden Druck der Frauenbewegung hin und den jeweils positiven Effekt der beiden Frauenstreiks von 1991 und 2019. Teil IV untersucht das Abstimmungsverhalten von Frauen und Männern zwischen 1971 und 2019. Es gibt hier durchaus bemerkenswerte Unterschiede zu beobachten: So wurde etwa der Gleichstellungsartikel in der Verfassung (1981) von den Frauen deutlicher angenommen als von den Männern, und das neue Ehegesetz (1985) wäre ohne die Stimmen der Frauen gar gescheitert. Jedoch war es auch die weibliche Stimmbevölkerung, die gemäss den präsentierten Zahlen gegenüber der aus feministischer Perspektive ebenfalls wichtigen Fristenlösung (2002) kritischer eingestellt war. Dieser Befund überrascht und weist auf Forschungslücken bzw. auf offene Fragen hin, denen sich HistorikerInnen annehmen sollten. Auch die im Buch skizzierte, von zahlreichen Kompromissen wie auch schlauen Schachzügen geprägte Geschichte der Mutterschaftsversicherung (2004) verdient eine vertiefte historische Aufarbeitung, fehlt doch in aktuellen Debatten rund um Vaterschaftsurlaub und Elternzeit das Bewusstsein um diese zentrale Errungenschaft der Frauenbewegung fast gänzlich.

Zusätzlich zu der chronologischen und genauen Aufarbeitung der Ereignisse vertieft der Autor einige Themen anhand älterer und aktueller historischer Forschung. So wird durch die Darstellung die über lange Zeit äusserst schwierige Position der BefürworterInnen deutlich, die mit viel Beharrlichkeit gegen eine politische Kultur der Schweiz angingen, die oft unter der Gürtellinie hantierte. Zu Recht würdigt der Autor in diesem Zusammenhang ausführlich die vielfältigen älteren feministischen Kämpfe, wie etwa den Streik der Basler Lehrerinnen (1959) oder den bekannteren Marsch nach Bern (1969). Informativ und umfassend sind auch die Ausführungen zur Verknüpfung der Wehrpflicht mit dem Stimm- und Wahlrecht in der Argumentation der GegnerInnen oder die Darstellung der zuweilen sehr unterschiedlichen Strategien der BefürworterInnen: sollte das Frauen Stimm- und Wahlrecht über eine Neuinterpretation der Verfassung errungen werden?

Oder war eine Schritt-für-Schritt-Strategie erfolgversprechender, die die politischen Rechte zuerst in den Gemeinden, dann kantonal und erst danach auf nationaler Ebene verankerte? War die politische Gleichberechtigung von Frauen ein grundrechtliches bzw. menschenrechtliches Prinzip, oder war es davon abhängig, ob die Frauen in der Schweiz ihre Fähigkeit und ihr Interesse an der Ausübung politischer Rechte unter Beweis gestellt hatten?

Während der Autor über weite Teile sorgfältig und akribisch Daten und Forschungsstand zusammengetragen hat, weisen die Ausführungen zur Frauenbewegung bisweilen Schwächen auf. So folgt der Autor in Teil II zu den Anfängen der Frauenbewegung einem alten Narrativ, das Perspektiven um 1900 in fortschrittlich oder traditionell einordnet und so das Feld der ersten Frauenorganisationen in der Schweiz nur ungenügend zu beschreiben vermag. Damit einher geht eine ebenfalls in älterer historischer Forschung verbreitete, aber inzwischen problematisierte Erklärung, Frauen hätten ein «traditionelles Geschlechterrollenverständnis» verinnerlicht. Dieser Blick wird dem vielfältigen politischen Handeln von Frauen und ihren Organisationen nicht gerecht. Auch bezüglich des Frauenstreiks 2019 und wie dieser einzuordnen sei (Teil III, Kapitel 3) dürften die Aus- führungen des Autors vermutlich von nachfolgender historischer Forschung noch revidiert bzw. ergänzt werden. Denn die Darstellung dieses bedeutsamen Ereignisses der Schweizer Geschichte als Folge der metoo-Bewegung greift wahrscheinlich zu kurz, waren doch sowohl Themen und Forderungen, wie auch Akteurinnen und Organisationsformen des Streiks zahlreich und divers. Es wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, die Ursachen, Motivationen und Akteurinnen zum Frauenstreik, sowie die daraus resultierenden, bis in die Parlamente reichenden Netzwerke zu untersuchen und zu würdigen.

Diese Kritikpunkte schmälern keineswegs das grosse Verdienst, das Werner Seitz zukommt. Sein Buch wird als äusserst komplettes Nachschlage- und Überblickswerk für manche StudentIn, ForscherIn und historisch interessierte BürgerIn von grossem Nutzen sein.

Zitierweise:
Isler, Simona: Rezension zu: Seitz, Werner: Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 561-563. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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